Bild 1: Anzahl neuer kundenspezifischer Produktvarianten p.a. vor und nach Einführung des Produktvariantenmanagements – Praxisbeispiel aus der Werkzeug-Branche.

Ausgabe 02 | 2021

Komplexitätsreduktion bei hoher Produkt­variantenvielfalt

Claudia Eisenhardt, Dr. Werner Schölling

Wachsende hohe Produktvariantenvielfalt in den Unternehmen der MEM-Industrie führt zu sub-optimalen und immer schlechter werdenden wirtschaftlichen und organisatorischen Bedingungen für Unternehmen und Kunden [1]. Deshalb ist eine markt- und betriebswirtschaftlich orientierte, auf einer systematischen Basis erfolgte Reduktion der Produktvariantenvielfalt eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung von Unternehmen.

Für eine Reduktion der Produktvariantenvielfalt gibt es die Realisierungsmöglichkeiten:

  • eine Produkt-Portfolio-Analyse nach Umsatz und Ergebnis [1] und
  • das Festlegen von marktorientierten Baureihen für Produktgruppen aus dem Portfolio der Produktvarianten [2].

Es werden aber auch bei durchgeführter Komplexitätsreduktion der Produktvariantenvielfalt weiterhin Markt-/Kundenanforderungen nach kundenspezifischen Produktvarianten auftreten und im Unternehmen realisiert werden müssen. Das resultiert aus unserer immer innovativer und komplexer werdenden technischen Welt bei Maschinen und Komponenten, was positiv zu sehen ist, da es die notwendige technische Innovation meist voran treibt. Entscheidend für die Wirtschaftlichkeit dieser kundenspezifischen Produktvarianten ist aber ein effizientes Produktva­rianten-Management, das heisst ein systematisches und konsequentes Management im Unternehmen nach definierten Spiel­regeln und mit optimierten Prozessabläufen im Angebots- und Auftragsabwicklungsprozess. Das ist insbesondere nach einer durchgeführten Komplexitätsreduktion der Produktvariantenvielfalt erforderlich, da sonst mittelfristig sich der Zustand vor der Komplexitätsreduktion wieder einstellt und die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens gefährdet, was vermieden werden sollte.

Spieleregeln Im Produkt­varianten-Management
Für ein effizientes Management von kundenspezifischen Produktvarianten sind im Unternehmen kundenauftrags- und prozessbezogene Spielregeln erforderlich, die im Folgenden dargestellt werden.
Bei einer kundenspezifischen Produktvariante handelt es sich um eine Modifikation einer im Unternehmen vorhandenen und aktiv produzierten Produktvariante, möglichst aus dem Baureihen-Variantensortiment. Die Modifikationen können beispiels­weise neue beziehungsweise ­veränderte Teile und Ausgangsmaterialien, andere Oberflächen (zum Beispiel Farbe, Galvanik), zusätzliche Teile, usw. oder weniger Leistungsparameter sein. Wichtig dabei ist, dass man den zulässigen Modifikationsgrad für Produktvarianten produktgruppenbezogen festlegt, zum Beispiel über Zulassung der änderbaren Teile und Materialien und/oder Engineering-Stunden für die Modifikation, der 10 bis 20 Prozent des Aufwands für ein neues Produkt in der jeweiligen Produktgruppen nicht übersteigen sollte.
Im Vertriebsprozess sind mit dem Kunden, der eine kundenspezifische neue Produktvariante wünscht, folgende relevante Daten unbedingt abzustimmen und vertraglich festzulegen:

  • Technische Produktspezifika­tion in strukturierter Form,
  • Vorgesehene Laufzeit der Produktvariante,
  • Geplante Verkaufsstückzahlen p.a., die auch Basis der Produktkalkulation sind,
  • Preisgleitklausel als Funktion der Verkaufsstückzahlen p.a.,
  • Gewünschte Lieferfrist, denn daraus können Lagerhaltungskosten im Unternehmen resultieren,
  • Anzahl an Bestellungen p.a., die die Höhe der Prozesskosten für den Kunden massgeblich bestimmen sowie
  • Verrechnung von Entwicklungskosten, Musterlieferungen und Werkzeugkosten – einmalig (vorzugsweise) vs. Stückpreisumlage.

Für das Erfassen dieser Daten beim Kunden und ihre unternehmensinterne weitere Verarbeitung ist eine IT-gestützte Lösung zweckmässig und effizient. Diese vertraglich vereinbarten Daten sollen mit dem Kunden mindestens einmal jährlich abgestimmt und erforderlichenfalls präzisiert werden. Auch das Abstimmen von preislichen Konsequenzen bei relevanten Abweichungen (ca. ±10 Prozent), vor allem bei der Vertragslaufzeit und den Verkaufsstückzahlen, gehören dazu.

Produktvarianten unter Berücksichtigung der Kosten-Nutzen-Relation
Die Produktvarianten müssen technisch, produktionstechnisch und materialeinkaufsseitig machbar sein (Machbarkeitsprüfung). Bei der technischen Machbarkeitsprüfung ist unter Einbeziehung des Kunden zu untersuchen, ob bereits vorhandene kundenspezifische Produkt- oder Baureihenvarianten einsetzbar sind. Technische und produktionstechnische Risiken sind, anders als bei grundsätzlich neuen Produkten, absolut zu vermeiden. Auf der Seite des Materialeinkaufs sind bei der Verwendung neuer Materialien die Kriterien Verkaufsstückzahlen vs. Mindestbestellmengen und Produktlieferfrist vs. Materiallieferfristen zu prüfen. Aus dieser Analyse können sich Mindermengenzuschläge und Lagerhaltungskosten ergeben, die bei der Produktkalkula­tion unbedingt zu berücksichtigen sind. Das Gleiche gilt analog auch für die Produktion in Bezug auf Fertigungslosgrösse und Produktionsdurchlaufzeit. Des Weiteren sollten neue kundenspezifische Produktvarianten in die vorhandene mittel- und langfristige Vertriebsstrategie passen oder zu einer Änderung/Ergänzung der Vertriebsstrategie bei einer marktseitigen Notwendigkeit beziehungsweise Chance führen (Strategieprüfung).
Für die kundenspezifischen Produktvarianten muss unter Berücksichtigung der Kosten-Nutzen-Relation, inklusive geplanter Unternehmenszielmarge und Einmalkosten, ihre Wirtschaftlichkeit gegeben sein (Wirtschaftlichkeitsprüfung). Sie dürfen nicht durch andere Produkte/-gruppen, zum Beispiel Standard- oder Baureihenprodukte, subventioniert werden, was nach unseren Erfahrungen oft der Fall ist. Das wird besonders gefährlich, wenn sich das Verhältnis zwischen Standard- und kundenspezifischen Produkten pro Jahr gravierend gegenüber der Planung verschiebt. Angebots- und Abwicklungsprozesse für kundenspezifische Produktvarianten haben grundsätzlich höhere administrative und vertriebliche Aufwendungen (Faktor 1,2 bis 1,5). Diese Kosten sind bei der Kalkulation der kundenspezifischen Produktvarianten zu berücksichtigen, jedoch werden sie in der Praxis oft nicht berücksichtigt.
Kundenspezifische Produkt­varianten bedürfen in jedem Fall der Genehmigung durch das Management. Dazu kann man in Abhängigkeit des Umsatzes, der Ergebnisse der Wirtschaftlichkeitsrechnung und der Relevanz der Kunden mehrere Management-Entscheidungsebenen im Unternehmen festlegen, zum Beispiel Produktmanager, Vertriebsmanager, Unternehmensmanagement. Kundenspezifische Produktvarianten sind bei Einhaltung aller anderen Kriterien für A-/B-Kunden und Potenzialkunden genehmigungsfähig, nicht aber für C-Kunden. Die Genehmigung durch das Management gilt aber immer nur für den jeweiligen Kunden, seine genehmigte Produktvariante und so lange sich die Ergebnisse der Wirtschaftlichkeit nicht relevant verändern, aber nicht für andere Kunden, die die bereits genehmigte kundenspezifische Produktvarianten auch kaufen wollen. Dazu ist dann eine neue Genehmigung durch das Management erforderlich. Die Genehmigungen von kundenspezifischen Produktvarianten für festgelegte Kunden sind im Stammdatensatz der Produktvariante im IT-System des Unternehmens zu speichern und aktuell zu halten. Für diese Kunden ist die kundenspezifische Produktvariante für den Vertrieb freigegeben, für andere Kunden ist sie vertriebsseitig gesperrt.
Wünscht ein anderer, nicht frei gegebener Kunde eine bereits vorhandene kundenspezifische Produktvariante, dann spielt die geplante Laufzeit des Verkaufs bei diesem Kunden eine sehr entscheidende Rolle. Ist die neue Laufzeit kürzer als die Laufzeit beim Erstkunden, dann ist eine neue Produktkalkulation aus der Sicht beider Kunden zu erarbeiten. Ist dagegen die neue Laufzeit länger als die des Erstkunden, dann sind zwei Produktkalkula­tionen erforderlich: Produktkalkulation ohne und mit Berücksichtigung des Erstkunden. Ist das Ergebnis der Produktkalkulation ohne den Erstkunden nicht positiv, dann kann dem Zweitkunden nur eine Vertragslaufzeit bis zum Ende der Vertragslaufzeit des Erstkunden bestätigt werden.
Die Anzahl der neuen kundenspezifischen Produktvarianten pro Jahr sollte durch eine Festlegung des Managements begrenzt und IT-mässig kontrolliert werden. Als Richtgrösse gilt dabei aus Erfahrungen 30 bis 50 Prozent der Anzahl der Produktva­rianten aus den letzten drei Jahren vor der Komplexitätsreduk­tion nach den Methoden in [1] und [2]. Überschreitungen der Anzahl dieser neuen Produktvarianten bedürfen der Sondergenehmigung durch das Unternehmensmanagement. Bild 1 zeigt dazu ein Praxisbeispiel aus der Werkzeug-Branche.
Alle genehmigten kundenspezifischen Produktvarianten sind jährlich bezüglich ihrer Wirtschaftlichkeit, insbesondere auf das Erreichen der zugesagten Verkaufsstückzahlen und ihrem möglichen Aufnehmen in das Baureihen-Produktvariantensortiment zu überprüfen [2].

Workflow zur Genehmigung neuer kundenspezifischer Produktvarianten
Für ein notwendiges kundenorientiertes Produktvarianten-Management im Unternehmen sind effiziente Prozesse und schnelle Entscheidungen erforderlich, denn die Kunden wünschen zeitnahe Angebote und Auftragsbestätigungen. Auch sind die Prozesskosten für kundenspezifische Produktvarianten zu optimieren, denn diese liegen meist viel höher als bei nicht-kundenspezifischen Produktvarianten [1]. Deshalb ist es zweckmässig, einen IT-Workflow, zum Beispiel SAP-Workflow oder ähnlich, für diese Prozesse zu implementieren. Bild 2 zeigt den Prozessablauf mit Verantwortlichkeiten, welcher im IT-Workflow abgebildet wird. Basis für den IT-Workflow ist eine durchgängige Daten- und Dokumentenbasis mit Zugriff für alle Beteiligten bei definierten Lese- und Schreibberechtigungen. Die Angebotsnummer, die im Auftragsfall zur Auftragsnummer wird, wird als fortlaufende Zählnummer bereits im Prozessschritt 1 automatisch festgelegt. Die Artikelnummer wird ebenfalls in diesem Prozessschritt durch eine produktgruppenbezogene fortlaufende Zählnummer automatisch vergeben. Damit sind Angebots- und Artikelnummer als Identnummern für den gesamten Prozess eindeutig festgelegt. Das Erfassen der notwendigen Kundenanforderungen und -daten, aber auch der technischen Anforderungen, erfolgt im Prozessschritt 1 in vorher definierter und strukturierter Form. Die in den einzelnen Prozessschritten erarbeiteten Ergebnisse (Materialien, Technologie, Kalkulationen usw.) und die Prüfergebnisse werden in der Datenbasis gespeichert und für die Arbeit in den nachfolgenden Prozessschritten bereitgestellt. Bei der technischen Machbarkeitsprüfung wird in jedem Fall überprüft, ob nicht doch eine der existierenden Produktvarianten die Anforderungen des Kunden erfüllt. Zweckmässig ist es auch, den Workflow mit einem IT-gestützten Kundenauftragsfilter [3] zu koppeln, mit dem die Wirtschaftlichkeit von Kundenaufträgen und -angeboten geprüft wird.
Im IT-Workflow ist für einen schnellen Ablauf ein aktives Terminsystem zu hinterlegen. Damit ist immer sichtbar, wo und in welchem Status sich die Bearbeitung befindet. Bei Abschluss eines Prozessschritts werden die Verantwortlichen des nächsten Prozessschritts automatisch informiert, dass ihre Bearbeitung beginnen kann. Dadurch werden kurze kundenorientierte Durchlaufzeiten im Variantenmanagement realisiert. Bild 3 zeigt ein Praxisbeispiel aus der Werkzeugbranche für die Durchlaufzeit im IT-Workflow zur Genehmigung von kundenspezifischen Produktvarianten. Hier wurden 80 Prozent aller Genehmigungsanträge in maximal fünf Arbeitstagen bearbeitet und damit die Kundenanforderungen erfüllt. Bei den Genehmigungsanträgen mit längerer Durchlaufzeit waren technische oder andere Klärungen mit den Kunden erforderlich.
Der IT-Workflow ist im Unternehmen als Projekt vorzubereiten und einzuführen. Die Projektleitung und Gesamtprozessverantwortung liegt beim Vertrieb. Alle am Prozessablauf beteiligten verantwortlichen Bereiche (Bild 2) müssen aktiv in die Projektbearbeitung, das heisst in ein Projektteam, einbezogen werden.

Literatur
[1] C. Eisenhardt und W. Schölling: Komplexitätsreduktion bei hoher Produktvariantenvielfalt. Maschinenbau 8/2020, S. 30–32.
[2] C. Eisenhardt und W. Schölling: Komplexitätsreduktion bei hoher Produktvariantenvielfalt – Marktorientiertes Festlegen von Baureihen. Maschinenbau MB-Revue 2020, S. 34-38.
[3] W. Schölling: Kundenaufträge wirtschaftlich bewerten. Maschinenbau 2/2018, S. 32–34.

ZUM AUTOR
Claudia Eisenhardt
infogralis AG
Schürlirain 5
CH-3172 Niederwangen

www.infogral.is
claudia.eisenhardt@infogral.is

Dr. Werner Schölling
Schwetzinger Strasse 7
D-69469 Weinheim
werner.schoelling@gmx.de

April

HANNOVER MESSE, Hannover

Weltleitmesse der Industrie mit dem Leitthema «Energizing a Sustainable Industry»
22. bis 26. April
www.hannovermesse.de

Intertool, Wels

Österreichs Fachmesse für Fertigungstechnik
23. bis 26. April
www.intertool.at

Schweissen, Wels

Österreichs Fachmesse für Füge-, Trenn- und Beschichtungstechnik
23. bis 26. April
www.schweissen.at

Mai

KUTENO, Rheda-Wiedenbrück

Kunststofftechnik Nord
14. bis 16. Mai
www.kuteno.de

Optatec, Frankfurt

Internationale Fachmesse für optische Technologien, Komponenten und Systeme
14. bis 16. Mai
www.optatec-messe.de